von Ronja
Zu Ostern waren wir - Netzwerk Ella, Neustart e.V. und SISTERS Ortsgruppe Berlin - wieder auf dem Straßenstrich an und um die Kurfürstenstraße in Berlin unterwegs um den Frauen über die Osterfeiertage eine kleine Freude und Erleichterung in Form von Lebensmittel- und Drogeriegutscheinen und Schokohasen zu bereiten.
24 Frauen konnten wir erreichen. Weitere Gutscheine, die durch Spenden finanziert wurden, werden in den kommenden Tagen noch an der Kurfürstenstraße und an von Neustart e.V. betreute Aussteigerinnen verteilt.
Vielen Dank an dieser Stelle daher an alle SpenderInnen, die auch in diesem Jahr diese Aktion möglich gemacht haben!
Die Freude der Frauen war auch in diesem Jahr spürbar. Wir haben oftmals ein von Herzen kommendes Dankeschön, frohe Ostern und auch „Bleibt gesund, wir brauchen euch!“ gehört.
Eine Frau freute sich ganz besonders über den Osterschokohasen, denn sie sagte uns, dass sie nun etwas hat, mit dem sie ihrem Kind eine große Freude machen kann.
Neben aller Freude und Herzlichkeit war für mich aber auch wieder einmal die schlimme Realität auf der Kurfürstenstraße nicht auszublenden.
Wir kamen an mehreren der Öko-Toiletten aka „Verrichtungsboxen“ vorbei und diese Zustände zu sehen, löst jedes Mal den Gedanken aus: „Wie können hier Menschen behaupten, sowas sei mit Würde und Selbstbestimmung und 'Beruf' vereinbar?“
Urin- und Fäkalien-Gestank schon mehrere Meter davon entfernt, Spuren von Vandalismus, fast vollständige Dunkelheit (Licht kommt nur durch ganz schmale Belüftungsschlitze) – so etwas als passable Alternative für die Frauen zur Prostitutionsausübung anzubieten ist einfach verachtend und unbegreiflich.
Dann haben wir eine Frau beschenkt, die draußen auf einer Bank saß und sich dafür entschuldigte, weil sie durch ein schlimmes Bein durch Arthrose nicht gut (auf)stehen könne. Eine Frau mit Kreislaufproblemen kam dazu. Und diese Frauen müssen trotzdem bei Wind und Wetter auf der Straße sitzen statt sich zu schonen, auszukurieren oder Reha-Maßnahmen in Anspruch nehmen zu können.
Am belastendsten waren gestern aber für mich tatsächlich die 10 Minuten, die ich früher als meine beiden MitstreiterInnen an unserem Treffpunkt auf der Kurfürstenstraße war und dort also allein wartete.
Straßenstrich habe ich selbst zwar nie gemacht, aber mich zum Teil mit Freiern auch auf offener Straße, vor Bahnhöfen oder auf Parkplätzen verabredet. Die Gefühle aus diesen Situationen damals kamen hoch und ich bin in diesen 10 Minuten mit innerlichem Zittern echt panisch gewesen, dass mich ein Freier anspricht, weil er denkt, dass ich mich dort gerade anbiete.
Oder aber, dass ich Stress mit einem Zuhälter bekomme (denn in meiner Wartezeit habe ich eine der Frauen mit einem Mann gesehen, der für mich stark danach aussah), denn rund um die Kurfürstenstraße gab es ja durchaus schon brutale „Revierkämpfe“ und ich hatte Angst, Stress zu bekommen, weil so ein Typ denken könnte, dass ich „seinen“ Frauen die Ecke streitig mache!
Und schlimm waren für mich kurz auch meine eigenen Gedanken, weil selbst ich heute noch nicht völlig frei von patriarchaler Gehirnwäsche und meinen eigenen Traumafolgen bin.
Kurz dachte ich: „Oh man, hier kann sich nicht mal eine 'normale' Frau sicher fühlen!“ Und das ist natürlich so ein Schwachsinn, denn auch die der Prostitution dort nachgehenden Frauen sind so normal wie du und ich. Aber die Gesellschaft stigmatisiert und teilt uns in die und uns. Deshalb werden ja auch von AnwohnerInnen oftmals nur die Frauen als Problem und ungewollt angesehen und bekommen zum Teil auch von ihnen Verachtung und schlimmeres ab. Wo es doch die Freier und Profiteure sind, die all die Missstände erst schaffen und existent halten!
Und ich dachte auch, dass ich vielleicht noch anfälliger sei, in meiner Wartezeit von Freiern oder Zuhältern „verwechselt“ zu werden, einfach weil mich immer noch ab und an die idiotische Vorstellung einholt, dass man mir einfach ansehen könnte, dass ich auch mal Hure war. Und dann zweifel ich daran, ob ich jemals „normal genug“ aussehen und mich benehmen kann. Wie gesagt, kompletter Schwachsinn, aber diese enorme Freier-Präsenz gestern hat all das mal wieder mit mir gemacht.
Gut, durch meine eigene Vergangenheit sind solche Gedanken und meine Antennen da wohl noch extremer und die Reaktionen meines Körpers größer. Aber unsere Mitstreiterin von SISTERS sagte dann auch, dass das in dieser Gegend als Frau allein auf jemanden Warten einfach extrem unangenehm ist und komische Gedanken verursachen kann. Eben auch bei Frauen ohne Prostitutionserfahrung.
Denn frau muss immer mit Belästigungen oder Übergriffen durch Freier und vielleicht sogar Zuhältern rechnen. Also mit der 24/7-Realität der Frauen, die dort tatsächlich der Prostitution nachgehen (müssen).
Solange Sexkauf legalisiert ist, sollen wir also mit solchen Realitäten leben? Dass Frauen in permanentem Unwohlsein leben müssen, für käuflich gehalten zu werden?
Dass Männer durch bestimmte Ecken der Stadt gehen und jede Frau, die sie dort sehen, gegebenenfalls für käuflich halten?
Dass die Frauen, die dort tatsächlich der Prostitution nachgehen, oftmals keine Chance auf Hilfe gegen diverse Abhängigkeiten (von Zuhältern, von Drogen um die Prostitution zu ertragen, oder auch von der Prostitution an sich, weil sie, einmal hierher gelockt, keine Ansprüche auf Hilfen des deutschen Sozialsystems beim Ausstiegswunsch haben oder diese mangels Unterstützung und durch Barrieren wie Traumatisierung und fehlenden Sprachkenntnissen nicht durchsetzen können) haben?
Ich will nicht in so einer Realität leben und ich wünsche all den Frauen von Herzen, dass sie doch irgendwann die Möglichkeit bekommen, ihr Leben frei von Zwängen zu gestalten.
Denn nein, mit „Sie könnten ja stattdessen einfach putzen gehen oder sonst einen anderen Job machen“, was einige Kleinredner der Problematik auch oft behaupten, ist es eben nicht getan.
Es braucht oftmals psychosoziale Betreuung und finanzielle Hilfen um dem Leben in der Prostitution und dem, was es mit der eigenen Psyche und Selbstbild angestellt hat, den Rücken zu kehren. Aber die sind bei Weitem nicht im notwendigen Umfang vorhanden und werden auch nicht als nötig angesehen, solange sich das gesellschaftliche Bild und die Politik hinsichtlich Prostitution nicht ändert.
Bis das also hoffentlich doch noch passiert, wofür wir uns natürlich weiterhin mit allen Kräften stark machen, werden unsere Einsätze weitergehen um den Frauen zumindest vor Feiertagen eine kleine Geste zu übermitteln, die ihnen zeigt, dass sie nicht ganz vergessen sind.
Und damit gebe ich an euch, liebe LeserInnen und SpenderInnen, neben besten Wünschen für schöne Ostertage, hier auch nochmal den Satz weiter, der mich gestern sehr berührt hat:
Bleibt gesund, wir brauchen euch!
© Ronja
Netzwerk Ella – 2024
Fotos: © G. Schönborn / Neustart e.V., Bildbearbeitung: Ronja
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