Die verborgene Kraft hinter Borderline: Sensibilität als Ressource
erkennen

Borderline wird oft mit Chaos gleichgesetzt: heftige Emotionen, schwierige Beziehungen, extreme Reaktionen. Was dabei fast immer untergeht, ist der Kern, der all diese Dynamiken erst möglich macht – eine außergewöhnliche Sensibilität.
Nicht die Art von Sensibilität, die als „dünnhäutig“ belächelt wird, sondern eine Form von Wahrnehmung, die tiefer reicht, schneller reagiert und Stimmungen erfasst, bevor andere sie überhaupt bemerken.
Diese Sensibilität kann überfordern. Sie kann schmerzen. Sie kann zerstörerisch wirken, wenn sie ungefiltert bleibt. Aber sie ist auch eine Ressource, die viele Betroffene nie bewusst kennenlernen, weil sie sich ihr Leben lang nur für die Schattenseiten verantwortlich gemacht haben.
Dieser Text zeigt eine andere Perspektive:
wie die gleiche Empfindlichkeit, die manchmal zu viel ist, gleichzeitig eine Kraft sein kann – für Verbindung, Ehrlichkeit, Kreativität und innere Klarheit.
Es geht nicht um Romantisierung, sondern darum, die feinen Fähigkeiten sichtbar zu machen, die hinter dem Chaos liegen.
Fähigkeiten, die nicht verschwinden müssen – sondern verstanden, geschützt und genutzt werden können.
1. Warum dieser Text nicht damit beginnt, was „falsch“ ist
Wenn über Borderline-Persönlichkeitsstörung gesprochen wird, tauchen meist dieselben Begriffe auf:
- „instabil“
- „impulsiv“
- „zu empfindlich“
- „selbstschädigend“
In Diagnosemanualen liest man selten Sätze wie:
„Menschen mit Borderline haben oft eine außergewöhnlich feine Antenne für Stimmungen, Ungerechtigkeit und Zwischentöne.“
Und doch beschreibt genau das einen zentralen Kern:
eine extreme Sensibilität.
Diese Sensibilität:
- tut weh,
- kann Beziehungen sprengen,
- kann Arbeit erschweren,
- kann den Alltag wie ein Minenfeld wirken lassen.
Aber sie ist eben nicht
nur ein Problem.
Sie ist auch:
- ein hochsensibles Warnsystem,
- eine Quelle für Kreativität,
- ein Motor für Gerechtigkeit,
- eine tiefe Fähigkeit zu Verbundenheit.
Das Problem in der klassischen Sicht auf Borderline ist nicht, dass sie die schwierigen Seiten beschreibt – die gibt es, und sie sind real.
Das Problem ist, dass
die andere Hälfte fehlt:
Was passiert, wenn man diese Sensibilität nicht nur als Störung, sondern auch als
Rohstoff betrachtet?
Dieser Text möchte genau diese Perspektive stark machen:
- ohne die Schmerzen zu romantisieren,
- ohne Selbstverletzung oder Krisen weichzuzeichnen,
- aber mit einem klaren Fokus:
„Was kann aus dieser Sensibilität werden, wenn man lernt, sie zu verstehen, zu regulieren und bewusst zu nutzen?“
2. Was mit „Sensibilität“ hier wirklich gemeint ist
„Sensibel“ wird oft synonym benutzt mit „schnell beleidigt“ oder „dünnhäutig“.
Das ist viel zu flach.
Im Kontext Borderline meint Sensibilität eher ein ganzes Bündel von Eigenschaften, zum Beispiel:
2.1 Emotionale Intensität
Gefühle sind nicht nur da – sie sind
laut:
- Freude kann sich anfühlen wie ein Rausch.
- Wut wie eine Explosion im Brustkorb.
- Scham wie ein kompletter Systemabsturz.
- Sehnsucht wie körperlicher Schmerz.
Was bei anderen Menschen ein „Das nervt mich ein bisschen“ ist, kann bei dir ein „Es zerreißt mich innerlich“ sein.
2.2 Hohe Reizoffenheit
Dein Nervensystem ist kein gedämpfter Plattenspieler, sondern eher ein Mikrofon mit maximalem Gain:
- Du hörst Zwischentöne in Stimmen.
- Du spürst Spannungen im Raum.
- Du nimmst unklare Blicke, veränderte Emojis, minimale Verzögerungen beim Antworten wahr.
Während andere noch locker plaudern, registriert dein System schon:
„Hier stimmt etwas nicht.“
2.3 Feine Wahrnehmung von Zwischentönen
Ein halber Satz, ein Augenrollen, ein „Schon okay“ mit falscher Betonung – und in dir läuft ein kompletter Film:
- „Er ist enttäuscht von mir.“
- „Sie findet mich lächerlich.“
- „Ich bin wieder zu viel.“
Die Information, die du wahrnimmst, ist oft
real:
Da ist tatsächlich Spannung, Enttäuschung, Gereiztheit.
Schwierig wird es an der Stelle, an der dein Kopf daraus eine Geschichte macht:
„Es ist meine Schuld, ich bin das Problem.“
2.4 Starker Wunsch nach echter Verbindung
Viele Menschen mit Borderline können mit oberflächlichem Smalltalk wenig anfangen:
- „Wie geht’s?“ – „Gut, danke.“
fühlt sich leer an.
Du willst:
- echte Gespräche,
- Ehrlichkeit,
- Klarheit,
- Tiefe.
Das führt schnell zu „ganz oder gar nicht“:
- Entweder Vollkontakt,
- oder Rückzug und Funkstille.
2.5 Gerechtigkeitssinn
Ungerechtigkeit, Lügen, Manipulation und Doppelmoral fühlen sich nicht nur „falsch“ an – sie können körperlich weh tun:
- Herzrasen,
- innere Hitze,
- Zittern,
- das Bedürfnis, sofort etwas zu sagen.
Das kann dich in Konflikte bringen – aber es ist gleichzeitig ein Ausdruck von
starkem Werteempfinden.
3. Warum Sensibilität sich zunächst wie ein Problem anfühlt
Bevor Sensibilität zur Ressource werden kann, wirkt sie oft wie ein permanenter Angriff auf dein System.
Drei Alltagssituationen, differenzierter betrachtet:
3.1 Beispiel Beziehung: „Du hast doch gar nichts gesagt – aber ich hab es gespürt“
Szene:
- Dein Partner / deine Partnerin kommt nach Hause.
- Er/Sie ist ruhiger als sonst, wirkt abwesend.
- Auf deine Frage „Alles okay?“ kommt ein „Ja, ist alles gut“, aber die Körpersprache schreit „Nein“.
Was passiert in dir?
- Deine Sensibilität registriert: Da passt etwas nicht.
- Dein Nervensystem geht hoch: Anspannung, Kloß im Hals, vielleicht Druck im Brustkorb.
- Dein Kopf liefert in Sekundenbruchteilen mögliche Erklärungen:
- „Ich habe etwas falsch gemacht.“
- „Er/Sie zieht sich zurück.“
- „Gleich kommt das Gespräch, dass alles vorbei ist.“
Die eigentliche Information – „Die Stimmung ist anders“ – ist korrekt.
Die Schlussfolgerung – „Ich bin schuld, es ist gefährlich“ – ist
gelerntes Muster, nicht Tatsache.
Wenn du das nicht auseinanderhältst, wird deine Sensibilität zur Qual.
Wenn du lernst, es zu unterscheiden, kann daraus werden:
„Ich nehme etwas wahr. Ich weiß noch nicht, was es ist. Ich frage nach – und ich behandle meine erste Interpretation wie eine Hypothese, nicht wie ein Fakt.“
3.2 Beispiel Arbeit: „Alle finden, ich bin zu emotional“
Im Job kann Sensibilität so aussehen:
- Du spürst schon am Anfang eines Meetings, dass ein Konflikt in der Luft liegt.
- Ein Kollege ist passiv-aggressiv freundlich, und dein ganzer Körper sagt: „Das ist fake.“
- Du versuchst, zu vermitteln, zu beruhigen, zu erklären – manchmal ungefragt.
Wenn du keine Grenzen setzt, rutschst du in eine Rolle:
- die/der Emotionale,
- die/der „Schwierige“,
- die/der „Zickige“ oder „Dramatische“.
Von innen fühlt es sich so an:
- „Ich versuche doch nur, zu verhindern, dass hier alles eskaliert.“
- „Ich kann nicht so tun, als wäre nichts, wenn ich merke, dass was nicht stimmt.“
Von außen kommt an:
- „Immer Drama.“
- „Immer muss alles so tief analysiert werden.“
- „Zu sensibel für diesen Job.“
Sensibilität ist hier nicht das Problem – das Problem ist:
- fehlende Rollenklärung („Ich bin nicht für die Stimmung des gesamten Teams verantwortlich“),
- fehlender Selbstschutz („Ich muss nicht jeden Konflikt moderieren“),
- fehlende Sprache für das, was du wahrnimmst.
3.3 Beispiel Social Media: „Ein Kommentar – und alles bricht zusammen“
Ein sehr typisches Muster:
- Du teilst etwas Persönliches, Verletzliches.
- 30 Leute reagieren positiv.
- Eine Person schreibt etwas Abwertendes, Spöttisches oder zynisches.
Was passiert?
- Dein Fokus zoomt auf diesen einen Kommentar.
- In deinem Kopf entsteht: „So denken bestimmt alle – sie trauen sich nur nicht, es zu sagen.“
- Dein Selbstbild kippt: „Ich bin lächerlich. Ich sollte einfach nichts mehr teilen.“
- Vielleicht reagierst du impulsiv: Gegenangriff, Rechtfertigung, Löschung des Posts, kompletter Rückzug.
Auch hier:
- Die Sensibilität macht, dass du diesen Kommentar stärker fühlst als andere.
- Das Kopfkino macht, dass er plötzlich größer wird als alles Positive.
Wenn du lernst, das zu trennen, kannst du:
- negative Rückmeldung sortieren („Ist da ein Kern drin, aus dem ich lernen kann?“),
- Trollverhalten erkennen und als das behandeln, was es ist,
- bewusst entscheiden, wem du Macht über deine Stimmung gibst.
4. Perspektivwechsel: Sensibilität als Rohdiamant
Stell dir deine Sensibilität als
Rohdiamanten vor.
Unbearbeitet:
- scharfkantig,
- kann schneiden,
- tut weh,
- schwer zu handhaben.
Bearbeitet, geschliffen, gefasst:
- reflektiert Licht,
- wirkt klar,
- ist wertvoll,
- wird zum Schmuckstück – ohne seine Härte zu verlieren.
Die Eigenschaften, die dir heute Probleme machen, sind dieselben Eigenschaften, aus denen später etwas Kraftvolles werden kann –
wenn:
- du sie kennenlernst,
- du sie einordnen lernst,
- du Werkzeuge bekommst, um damit umzugehen.
Schauen wir uns drei Bereiche an, in denen sich das besonders zeigt.
4.1 Empathie: Die Fähigkeit, wirklich mitzuschwingen
Viele Menschen mit Borderline haben eine extreme Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen – manchmal so stark, dass sie mitfühlen, als wären es ihre eigenen Gefühle.
Das kann heißen:
- Du merkst im Gespräch, wie jemand innerlich kippt, obwohl er „alles gut“ sagt.
- Du spürst in Gruppen, wer sich ausgeschlossen oder unsicher fühlt.
- Du leidest mit, wenn andere leiden – teilweise so stark, dass es dich tagelang beschäftigt.
Risiko:Du gehst in den Gefühlen anderer unter, übernimmst Verantwortung, die nicht deine ist, hilfst über deine Belastungsgrenzen hinaus.
Ressource:Wenn du Grenzen lernst, kann diese Empathie unglaublich heilsam sein:
- als Freund:in,
- als Partner:in,
- als Kollege/Kollegin,
- in helfenden Berufen,
- in kreativen Projekten, die andere berühren.
Beispiel:
Eine Person in deinem Umfeld wirkt „komisch“. Andere sagen: „Die ist halt heute so.“ Du spürst aber, dass da mehr ist.
Statt zu denken „Bestimmt mag sie mich nicht“, könntest du sagen:
„Mir fällt auf, dass du heute anders bist. Wenn du irgendwann reden willst – ich bin da.“
Das ist Sensibilität als
Zugewandtheit, nicht als Selbstzerstörung.
4.2 Kreativität: Gefühle als Rohmaterial
Extreme Gefühle erzeugen extreme Bilder, Gedanken, innere Filme.
Für Kreativität ist das ein enormer Schatz:
- Deine Metaphern sind intensiver, weil du Dinge wirklich gefühlt hast.
- Deine Texte, Songs, Bilder oder Projekte können andere tief treffen, weil sie echte Erfahrung transportieren, keinen glatten Fake.
- Deine Fähigkeit, innere Zustände in äußere Formen zu übersetzen, kann wachsen – vor allem, wenn du regelmäßig schreibst, zeichnest, Musik machst etc.
Beispiele:
- Nach einem Streit schreibst du einen Dialog zwischen deinem verletzten Anteil und dem Anteil, der unbedingt gemocht werden will.
- Du machst einen Beat, der genau die innere Unruhe abbildet, die du sonst nur schwer in Worte fassen kannst.
- Du erfindest eine Figur (Comic, Story, Kunstfigur), die die „überdrehte“ Seite von dir trägt – und über die du Dinge erzählen kannst, die dir sonst zu nackt wären.
Die Gefühle verschwinden dadurch nicht, aber:
- sie bekommen Form,
- sie werden bearbeitbar,
- sie hören auf, nur im Inneren zu explodieren.
4.3 Gerechtigkeitssinn & Werte: „Das ist nicht egal“
Viele mit Borderline haben ein sehr klares Empfinden von:
- fair / unfair,
- ehrlich / unehrlich,
- echt / künstlich.
Das führt zu:
- Wut bei Ungerechtigkeit,
- Null-Toleranz bei Verrat oder Lügen,
- starken Reaktionen auf Heuchelei.
Problematisch wird es, wenn jede Kleinigkeit zur „letzten Grenze“ wird oder wenn alle Grautöne verschwinden.
Kraftvoll wird es, wenn du lernst:
- Wann lohnt sich der Einsatz meiner Energie?
- Wo kann ich wirklich etwas verändern?
- Wo sind meine Grenzen – nicht nur bei anderen, sondern auch bei mir?
Dann kann dein Gerechtigkeitssinn zum Motor werden:
- für politische oder soziale Projekte,
- für einen faireren Umgang in Teams,
- für den Schutz Schwächerer,
- für klare Statements gegen Missbrauch, Mobbing, Ausgrenzung.
5. Wo Sensibilität im Alltag zur Stärke werden kann
5.1 In Beziehungen: Von „zu viel“ zu „bewusst intensiv“
Beziehungen sind bei Borderline häufig der Bereich, in dem am meisten kaputtgeht – und gleichzeitig der Bereich, in dem die größte
Ressource steckt.
Typische Muster:
- starke Idealisierung („Du bist der einzige Mensch, der mich versteht“)
- starke Entwertung („Du bist wie alle anderen, ich kann dir nicht trauen“)
- Angst vor Verlassenwerden bei kleinsten Distanzen
- klammerndes Verhalten oder radikaler Rückzug
Das alles hängt eng mit Sensibilität zusammen:
Du merkst jede kleine Distanz – und interpretierst sie als Gefahr.
Wie kann daraus eine Stärke werden?- Klarheit über Bedürfnisse
Statt unbewusst zu erwarten, dass andere erraten, was du brauchst, kannst du lernen, es zu benennen:- „Mir helfen klare Rückmeldungen mehr als Schweigen.“
- „Wenn du Abstand brauchst, sag mir bitte, dass es nicht das Ende ist.“
- „Ich reagiere stark auf Funkstille – lass uns Absprachen treffen, wie wir damit umgehen.“
- Transparenz über deine Sensibilität
Je nach Beziehung kann es hilfreich sein, klar zu sagen: „Ich nehme sehr viel wahr, manchmal zu viel. Es kann sein, dass ich Dinge überinterpretiere. Ich arbeite daran – aber wenn dir auffällt, dass ich in Katastrophenfilme abrutsche, sag mir das bitte.“ - Gemeinsame „Notfallregeln“
Zum Beispiel:- Keine Trennungsdrohungen im Streit.
- Bei starker Überforderung: kurze Pause, nicht Kontaktabbruch.
- Nach heftigen Konflikten: kurzes Nachgespräch, um Interpretationen zu sortieren.
In Beziehungen wird deine Sensibilität zur Ressource, wenn:
- du sie nicht mehr verstecken musst,
- dein Gegenüber darüber Bescheid weiß,
- ihr beide daran arbeitet, statt dass nur du „die Schwierige/der Schwierige“ bist.
5.2 Im Beruf: Sensible Stärken gezielt einsetzen
Nicht jeder Job passt zu jedem Nervensystem. Für ein sehr sensibles System sind manche Umgebungen reines Gift:
- Großraumbüros mit Dauerlärm,
- extrem hierarchische Strukturen ohne Mitsprache,
- Branchen, in denen ständige „Performance“ gefragt ist,
- toxische Teams mit viel hintenrum.
Aber deine Sensibilität kann in vielen Kontexten eine Qualität sein:
- Kund:innenkontakt: Du merkst schnell, was jemand braucht – auch zwischen den Zeilen.
- Teamarbeit: Du spürst Spannungen früh und kannst, wenn du stabil genug bist, sie ansprechen.
- Kreative oder konzeptuelle Aufgaben: Du bringst Tiefe, andere Perspektiven, ungewöhnliche Ideen mit.
- Soziale Berufe: Deine Empathie kann andere sich wirklich gesehen fühlen lassen – wenn du deine Grenzen schützt.
Konkrete Strategien:
- Prüfe bei Jobs oder Projekten nicht nur: „Kann ich das fachlich?“, sondern auch:
– „Wie laut ist das Umfeld?“
– „Wie ist die Konfliktkultur?“
– „Wie viel Selbstbestimmung habe ich?“ - Lerne Sätze wie:
– „Ich brauche kurz Zeit, um das zu durchdenken.“
– „Ich merke, das Thema geht mir gerade sehr nahe – können wir einen kurzen Break machen?“
– „Mir fällt auf, dass die Stimmung im Team angespannt ist. Wollen wir das offen ansprechen?“
5.3 In kreativen Projekten: Deine Innenwelt als Werkstatt
Kreative Projekte sind nicht nur ein Hobby – sie können für Menschen mit Borderline auch:
- Ventil,
- Struktur,
- Identitätsanker,
- Kommunikationsform
sein.
Ideen, wie du deine Sensibilität hier als Ressource nutzen kannst:
- Tagebuch, aber strukturiert: Nicht nur „alles ist scheiße“, sondern:
– Was war der Trigger?
– Welche Geschichte hat mein Kopf dazu gebaut?
– Was hat mein Körper gemacht?
– Was hätte ich gebraucht? - Fiktive Figuren: Du lässt Anteile von dir als Charakter existieren – in Comics, Geschichten, Hörspielen. So kannst du über dich sprechen, ohne dich ständig direkt zu entblößen.
- Klang, Bild, Farbe: Du übersetzt Gefühle in Sound, Formen, Farben. Du musst nichts erklären – die Leute spüren es.
6. Wie man Sensibilität handhabbar macht, statt sie zu bekämpfen
Sensibilität wird zur Ressource, wenn sie:
- wahrgenommen wird,
- reguliert wird,
- gerichtet wird.
6.1 Wahrnehmen: „Was genau passiert gerade in mir?“
Ohne Bewusstsein ist jede starke Emotion wie ein Autounfall in Zeitlupe – aber du siehst nur den Aufprall.
Du kannst lernen, die Ereigniskette davor zu erkennen:
- Trigger: Was war die auslösende Situation? (Blick, Satz, Nachricht, Schweigen, Verhalten, Erinnerung)
- Gedanke: Was war der erste automatische Gedanke? („Ich bin egal“, „Ich werde verlassen“, „Ich bin peinlich“)
- Gefühl: Angst, Wut, Scham, Traurigkeit, Ekel, Leere?
- Körper: Herzrasen, Zittern, Druck auf der Brust, flache Atmung?
- Impuls: schreien, schreiben, schneiden, trinken, verschwinden, klammern?
Schon dieses Sortieren schafft minimalen Abstand zwischen dir und der Emotion.
Das Ziel ist nicht, „vernünftig“ zu sein – das Ziel ist, wenigstens 1–2 Sekunden zu haben zwischen
Impuls und
Handlung.

6.2 Regulieren: Die Emotion runterdimmen, nicht wegdrücken
Regulation heißt nicht: „Ich fühle nichts mehr.“
Regulation heißt: „Ich bringe mich von 100 auf 60, damit ich überhaupt denken kann.“
Mögliche Strategien (die du natürlich mit Profis vertiefen kannst):
- Körperlich erden:
– Kaltes Wasser,
– Eiswürfel,
– feste auf den Boden stampfen,
– sich anlehnen und bewusst den Körper spüren. - Reizkanäle begrenzen:
– Handy weg,
– Kopfhörer auf,
– Raum wechseln,
– Licht dimmen. - Selbstberuhigende Sätze:
– „Das Gefühl ist extrem, aber es ist ein Gefühl, kein Urteil über meinen Wert.“
– „Ich muss nicht jetzt sofort reagieren.“
– „Ich darf mir Zeit nehmen, bevor ich entscheide.“
Regulation ist keine Niederlage.
Sie ist die Voraussetzung dafür, dass deine Sensibilität nicht permanent alles sprengt.
6.3 Lenken: Wohin mit der Energie?
Emotionen sind Energie.
Wenn du sie nicht bewusst nutzt, suchen sie sich ihren Weg:
- gegen dich selbst,
- gegen andere,
- oder in endlose Grübel-Schleifen.
Du kannst bewusst entscheiden:
- Wut → schreiben, sprechen, konfrontieren (später, strukturiert, nicht im Explosionsmoment).
- Traurigkeit → Kontakt suchen, Musik, Schreiben, Weinen zulassen.
- Scham → mit einer Person teilen, die dich nicht verurteilt, statt dich komplett zurückzuziehen.
Frage an dich selbst:
„Wenn ich diese Energie nicht gegen mich richten würde – wofür könnte ich sie benutzen?“
7. Das große Thema: „Bin ich einfach zu viel?“
Viele mit Borderline tragen einen Grundsatz in sich, der fast wie in Stein gemeißelt ist:
„Ich bin zu viel.“
Zu emotional, zu anstrengend, zu kompliziert, zu fordernd, zu launisch.
Das führt oft zu zwei Extremen:
- Überanpassung:
– bloß nicht auffallen,
– Gefühle wegdrücken,
– anderen recht machen,
– innerlich aber Dauerstress. - Überdrehung:
– alles rausballern,
– nicht mehr filterbar,
– wenn schon „zu viel“, dann richtig.
Beide Varianten haben einen Preis:
- Entweder frisst es dich von innen auf.
- Oder es zerstört Beziehungen und Selbstbild.
Die ressourcenorientierte Alternative ist unbequem, aber realistischer:
„Ich bin intensiv. Ich bin nicht für jede Person und jede Umgebung passend – aber ich bin auch nicht grundsätzlich falsch.“
Daraus folgt:
- Du darfst gezielt Umfelder suchen, in denen Intensität nicht sofort als „Defekt“ gilt.
- Du darfst Grenzen ziehen – sowohl in Richtung anderer als auch in Richtung deiner eigenen Impulse.
- Du darfst stolz darauf sein, dass du anders fühlst, ohne so zu tun, als wäre alles nur „superkraft“ und nicht auch anstrengend.
8. Konkrete Ideen, wie du deine Sensibilität als Ressource kultivieren kannst
8.1 Dein persönliches „Sensibilitäts-Inventar“
Setz dich einmal bewusst hin und schreib dir auf:
- Wann ist meine Sensibilität hilfreich?
– Situationen, in denen du etwas bemerkt hast, bevor es eskaliert ist.
– Momente, in denen jemand dir gesagt hat: „Gut, dass du das so klar aussprechen konntest.“ - Wann schadet sie mir?
– Situationen, in denen du impulsiv gehandelt und es später bereut hast.
– Momente, in denen du tagelang in Gedanken festhingst, weil du etwas überinterpretiert hast. - Was sind meine Frühwarnzeichen?
– körperlich (z. B. Enge in der Brust, Kopfdruck, innere Unruhe),
– gedanklich („Mir egal“, „Ich mach jetzt alles kaputt“),
– verhaltensbezogen (Chats durchscrollen, alte Wunden aufreißen, triggernde Inhalte suchen).
Wenn du das schriftlich festhältst, bekommst du nach und nach eine
Landkarte deiner Sensibilität.
8.2 Deine Top-3-Schutzfaktoren definieren
Sensibilität kann nur langfristig Ressource sein, wenn du dich nicht permanent überlastest.
Schreib dir drei Dinge auf, die dich zuverlässig stabilisieren – und behandle sie wie Termine:
- z. B.
– „Mindestens 1 Stunde am Tag bewusst offline“
– „Kein Streit nach Mitternacht anfangen“
– „Wenn ich merke, dass ich in Katastrophenfantasien rutsche, schreibe ich es kurz auf, bevor ich handle.“
Diese Dinge sind nicht „nice to have“, sondern Teil deines Umgangs mit deiner Ressource.
8.3 „Mit wem darf ich sensibel sein?“
Nicht jede Person ist geeignet, deine Intensität zu halten. Das ist keine Abwertung dieser Menschen – sondern Realität.
Du kannst unterscheiden:
- Menschen, bei denen du dich roh zeigen kannst – die vielleicht nicht alles verstehen, aber dich nicht abwerten.
- Menschen, bei denen du eher dosiert bist – weil sie sonst überfordert sind oder verletzend reagieren würden.
Das ist keine Falschheit, sondern Selbstschutz.
Du bist nicht verpflichtet, jedem dein Innenleben zu schenken.
9. Rückschläge einplanen – ohne die Ressource in Frage zu stellen
Auch wenn du all das verinnerlichst:
- Es wird Tage geben, an denen ein Kommentar dich komplett trifft.
- Es wird Momente geben, in denen du impulsiv handelst, obwohl du „es besser weißt“.
- Es wird Menschen geben, die deine Sensibilität ausnutzen oder abwerten.
Das bedeutet nicht:
- dass du nichts gelernt hast,
- dass du „hoffnungslos“ bist,
- dass deine Sensibilität doch nur ein Fluch ist.
Es bedeutet:
- Du bist ein Mensch mit einem sehr empfindlichen Nervensystem.
- Du lebst in einer Welt, die oft nicht auf diese Sensibilität ausgerichtet ist.
- Und du bist auf einem Weg, auf dem Rückschläge dazugehören.
Eine hilfreiche innere Haltung kann sein:
- „Okay, das war ein Crash. Was kann ich daraus mitnehmen?“
- „Welche Ressource habe ich diesmal nicht genutzt?“
- „Wen kann ich einbeziehen, um das zu sortieren, statt mich alleine in die Ecke zu stellen?“
10. Fazit: Sensibilität ist kein Defekt – sie braucht einen Rahmen
Borderline wird oft über das
Chaos definiert:
- chaotische Gefühle,
- chaotische Beziehungen,
- chaotische Selbstbilder.
Wenn man jedoch hinter das Chaos schaut, sieht man:
- eine extreme Feinfühligkeit,
- eine große Sehnsucht nach Echtheit,
- eine starke Reaktion auf Ungerechtigkeit,
- eine tiefe Fähigkeit zu Verbindung und Kreativität.
Deine Sensibilität:
- wird dich nie zu einem „smooth funktionierenden System“ machen,
- wird dich nie zu einem Menschen machen, dem alles egal ist,
- wird dich nie in die Kategorie „unkompliziert“ schieben.
Aber sie kann dich zu jemandem machen, der:
- sehr klar benennen kann, was weh tut,
- sehr intensiv lieben und fühlen kann,
- sehr kreativ ausdrücken kann, was andere nur diffus erahnen,
- sehr konsequent für bestimmte Werte einsteht.
Dafür braucht es:
- Wissen über dich selbst,
- Werkzeuge zur Regulation,
- Menschen, die deine Intensität nicht pathologisieren, sondern mit dir zusammen halten,
- und die Bereitschaft, deine Sensibilität nicht länger nur als „Fehler“ zu sehen, sondern als das, was sie ist:
eine kraftvolle, rohe, manchmal gefährliche – aber auch unglaublich menschliche Ressource.
Und du darfst Schritt für Schritt lernen, diese Ressource zu nutzen, ohne dich von ihr zerstören zu lassen.
Verabschiedung
Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, diesen Artikel zu lesen und dich mit dem Thema Sensibilität auf eine neue, konstruktive Weise auseinanderzusetzen. Wenn du etwas für dich daraus mitnehmen konntest, freut mich das sehr.
Bleib neugierig, bleib offen – und vor allem: bleib dir selbst treu.
Euer Sascha
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1. Sensibilität und emotionale Intensität von Imi Lo
Dieses Buch zeigt auf, wie Menschen mit hoher Sensibilität und intensiven Gefühlen leben und diese nicht nur als Belastung, sondern als
aktive Ressource begreifen können. Es bietet praktische Strategien, um
emotionale Sensibilität als Stärke zu nutzen — anstatt gegen sie anzukämpfen.
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2. Zerrissen zwischen Extremen: Leben mit einer Borderline‑Störung (Autor:innen nicht spezifiziert)
Ein Ratgeber, der sich mit den Herausforderungen einer Borderline‑Persönlichkeitsstörung auseinandersetzt — mit Informationen für Betroffene und Angehörige, wie man trotz dieser Diagnose Perspektiven findet.
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3. Ich hasse dich – verlass’ mich nicht: Die schwarz‑weiße Welt der Borderline‑Persönlichkeit von Jerold J. Kreisman
Ein Klassiker unter den Borderline-Ratgebern, der tief in die Dynamiken, Emotionen und Beziehungsmuster von Menschen mit Borderline eintaucht — hilfreich, um Sensibilität und extreme Emotionen im Kontext zu verstehen.
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✅ Glossar – Die verborgene Kraft hinter Borderline: Sensibilität als Ressource erkennen
Affektregulation
Die Fähigkeit, starke Gefühle wahrzunehmen, zu steuern und gezielt zu dämpfen, bevor sie das Verhalten bestimmen. Bei Borderline oft erschwert, aber trainierbar.
Dissoziation
Ein Schutzmechanismus des Gehirns bei Überforderung. Kann sich anfühlen wie „neben sich stehen“, Gedächtnislücken, Raum-Zeit-Verzerrung oder emotionale Taubheit.
Emotionale Intensität
Starke, schnell ansteigende Gefühle, die sehr tief gehen und lange nachwirken. Positiv wie negativ deutlich stärker ausgeprägt als bei vielen anderen Menschen.
Empathie (affektiv & kognitiv)
Affektive Empathie: Mitfühlen, mitschwingen, emotionale Resonanz.
Kognitive Empathie: Verstehen, was andere denken oder fühlen – ohne es selbst mitzufühlen.
Menschen mit Borderline haben oft starke affektive Empathie.
Feinwahrnehmung
Die Fähigkeit, kleinste nonverbale Hinweise wahrzunehmen (Tonfall, Körpersprache, Verzögerungen beim Antworten). Stellt eine Ressource dar, kann aber auch überfordern.
Gerechtigkeitssinn
Starkes inneres Empfinden für Fairness und Ehrlichkeit. Bei Borderline häufig sehr ausgeprägt, was zu klaren, oft intensiven Reaktionen auf Ungerechtigkeiten führt.
Hypervigilanz
Ein dauerhafter Zustand erhöhter Aufmerksamkeit. Das Nervensystem sucht ständig nach Anzeichen für Gefahr, Ablehnung oder Konflikte. Häufig eine Folge früherer Erfahrungen.
Impulsivität
Handeln, bevor der Kopf verarbeiten kann. Entsteht oft aus emotionaler Überflutung. Kann sich zeigen in Streit, Nachrichten, Kaufentscheidungen, Selbstverletzung oder Rückzug.
Interpretationskaskade
Kette von Annahmen, die sich aus einer kleinen Beobachtung entwickelt.
Beispiel: „Er wirkt genervt → ich habe etwas falsch gemacht → er will mich verlassen.“
Kennzeichnend für schnelle, oft extreme Schlussfolgerungen.
Reizoffenheit
Stark erhöhte Empfänglichkeit für Geräusche, Stimmungen, Worte, Blicke, soziale Felder. Kann zu Überforderung führen – oder zur Fähigkeit, Stimmungen früh zu erkennen.
Rohdiamant-Metapher
Bild für Sensibilität, die ungefiltert scharfkantig und schmerzhaft ist, aber – geschliffen und geschützt – große Klarheit und Stärke entfalten kann.
Selbstabwertung
Automatische, harte Urteile über sich selbst („Ich bin zu viel“, „Ich bin das Problem“). Wird oft durch alte Muster ausgelöst, nicht durch aktuelle Realität.
Selbstverletzendes Verhalten (SVV)
Strategien, um extreme emotionale Zustände kurzfristig zu beenden (Schneiden, Verbrennen, Schlagen). Keine „Aufmerksamkeitssuche“, sondern Bewältigungsversuch.
Im Artikel selbst kannst du das optional weniger prominent halten, je nach Sensibilität deiner Zielgruppe.
Sensibilitäts-Inventar
Ein persönliches Werkzeug zur Selbsterkenntnis: Liste eigener Trigger, Stärken, Frühwarnzeichen und stabilisierender Routinen. Hilft, Sensibilität bewusst zu nutzen.
Trigger
Reize oder Situationen, die intensive Gefühle auslösen, oft aufgrund älterer Erfahrungen.
Kann ein Wort, eine Geste, ein Geruch, eine Erinnerung oder ein soziales Muster sein.
Validation (Validierung)
Das Anerkennen von Gefühlen und Wahrnehmungen, ohne sie zu verharmlosen oder kleinzureden. Ein Schlüsselmechanismus in DBT-Therapie und sensiblen Beziehungen.
Verbundenheit
Das innere Gefühl, gesehen, verstanden und sicher zu sein. Für Menschen mit Borderline essenziell – und gleichzeitig oft schwierig erreichbar.
Zwischentöne
Subtile emotionale Signale, die zwischen Menschen entstehen: Unsicherheit, Müdigkeit, Mikroaggressionen. Menschen mit Borderline nehmen diese oft besonders präzise wahr.