von Ronja
Liebe Freundinnen und Freunde,
gestern waren wir wieder auf unserer alljährlichen Tour auf dem Berliner Straßenstrich in und rund um der Kurfürstenstraße unterwegs. Jeweils einE VertreterIn von Neustart e.V., SISTERS Berlin und dem Netzwerk Ella haben spendenfinanzierte Lebensmittel- und Drogeriegutscheine im Wert von 25 Euro bzw. 10 Euro verteilt, damit die Frauen sich zu Weihnachten eine Kleinigkeiten gönnen können und ihre Sorgen etwas abgemildert werden.
Die Aktion in diesem Jahr war aber nicht einfach zu organisieren. Die Krankheitswelle gefährdete die Aktion und auch das Berliner Wetter mit Regen und beginnenden Sturmböen machten es uns nicht einfach. Das machte uns aber vor allem auch wieder schmerzlich bewusst:
Wir alle haben heute (auch ich inzwischen, auch wenn es bei mir nicht immer so war) eine sichere, warme Wohnung, in der wir uns nach einem Tag bei Wind und Wetter erholen können. Wir haben die Möglichkeit, uns bei Krankheit auszukurieren, zum Arzt zu gehen oder auch dann zuhause zu bleiben, wenn unsere Kinder krank sind. Wir müssen keine Gewalt fürchten, weder wenn wir den Tätigkeiten nachgehen, mit denen wir unseren Lebensunterhalt verdienen, noch, wenn wir dieser Tätigkeit z.B. wegen Krankheit nicht vollumfänglich nachgehen können.
Bei den Frauen, die wir gestern getroffen haben, sind diese Sicherheiten oftmals nicht gegeben. Sie müssen dort stehen, bei Wind und Wetter, um zu überleben. Müssen Gewalt von Freiern und Zuhältern fürchten. Haben keinen Ort, den sie zuhause nennen, in dem sie warm und sicher sind, und können sich nicht erholen oder Geld für lindernde Medikamente in der Apotheke ausgeben, wenn sie von der Krankheitswelle erwischt werden.
Das alles ist ihre Lebensrealität 24/7, mitten in Berlin, vor den Augen der Gesellschaft.
Wir hatten daher gestern auch wieder berührende Begegnungen. Eine Frau, die an der Straße stand, hatte ihr Hab und Gut in einem Rollkoffer hinter sich. Andere Frauen sprachen offen mit uns über ihre Obdachlosigkeit.
Wieder andere Frauen waren erst skeptisch, als wir ihnen die Gutscheine überreichten. Denn dass jemand sie einfach aus Nächstenliebe bedenkt? Das sind sie nicht gewohnt. Trotzdem war bei allen am Ende die Freude groß. Und neben den Gutscheinen kam auch besonders gut an, dass wir allen auch ein paar Süßigkeiten überreichen konnten. Mehrere Frauen haben uns nach kurzen Gesprächen gefragt, ob sie uns umarmen können. Eine Frau sagte, nachdem uns eine andere umarmt hatte: „Ich möchte bitte auch! Sowas ist so wichtig!“
Und daran sah ich und kenne es ja auch noch aus meiner Zeit in der Prostitution: natürlich ist Kontakt und Nähe zu Menschen so wichtig! Aber genau das gibt es eben nicht von oder für Freier, auch wenn sie das angebliche Suchen nach Nähe oft als Motiv für ihr Freiertum angeben. Denn diese Berührungen von Freiern sind für die Frauen ungewollt und nur aus Not geduldet. Echte Zuneigung, und sei es durch eine kurze Umarmung, die auf beiden Seiten von Herzen kommt, kann man nicht kaufen!
Witterungsbedingt war es rund um die Kurfürstenstraße gestern verhältnismäßig leer. Dennoch konnten wir 26 Frauen beschenken. Für vier Aussteigerinnen wurden Gutscheine zurückgelegt, die sie in den nächsten Tagen erhalten. Fünf Sets aus Gutscheinen sind übrig geblieben, die zeitnah aber auch noch durch Sozialarbeiterinnen im Café Neustart verteilt werden.
Wir bedanken uns herzlich für die Spenden, die diesen Einsatz auch in diesem Jahr möglich gemacht haben!
PS: Das Netzwerk Ella hat in den letzten Tagen auch schon in mehreren anderen Städten Gutscheine verteilt, auch darüber berichten wir noch ;)
Eure Ellas
© Netzwerk Ella - 2023
Titelbild: pixabay.com/users/445693-445693/, Bildbearbeitung: Pani K.
Hintergrundbild Fotos: pixabay.com/users/monicore-1499084/, Bildbearbeitung: Ronja
Fotos: © Gerhard Schönborn / Neustart e.V.