von Ellas
Liebe Freundinnen und Freunde,
Jara Anouk hat uns am 3. Dezember bereits von ihren Weihnachten im Milieu berichtet. Heute lässt sie uns daran teilhaben, wie es ist, wieder Weihnachten zu lernen und das Narben und Schmerz ein Leben lang bleiben...
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Narben bleiben – auch zur Weihnachtszeit
Autorin: Jara AnoukAls ich floh, floh ich in eine ungewisse Zukunft. Ich musste alles hinter mir lassen, mein Handy wegwerfen und meine Zeugnisse sogar meine Geburtsurkunde hatte ich ohnehin schon lange an meinen Zuhälter verloren.
Ich saß im Fluchtauto und die Tränen flossen mir über die Wangen. Warum wusste ich nicht genau. Eine Mischung aus Hoffnung, Angst, Schmerz, Freude, verlorene Vergangenheit, gewonnene Zukunft.
Ich kam mir verloren vor und einsam.
Wie ein Alien, der auf der Erde gelandet ist und nichts mit ihr und den Menschen darin anfangen kann.
Die erste Zeit vegetierte ich nur so vor mich hin. Tag und Nacht verbrachte ich im Bett und ich wusste nicht, was jetzt auf mich zukommt. Ließ niemanden an mich ran, wollte einfach nur alleine sein. Wer auch hätte verstehen können, was ich fühle? Wer hätte verstanden, dass ich alles verloren glaubte? Wer hätte versucht zu verstehen, dass ich mich fragte, ob ich zurückgehen soll in mein bisheriges Leben? Ich verstand mich ja selber nicht. Sollte ich nicht glücklich sein?
Dann kam Weihnachten. Ein Fest, eine Zeit, die spielte schon so lange keine Rolle mehr in meinem Leben und plötzlich sollte sie das wieder tun.
Ich weiß, meine Familie wollte nur das Beste für mich, das schönste Weihnachtsfest aller Zeiten. Hatten sie doch so lange geglaubt, ihre Tochter, Schwester und Tante für immer verloren zu haben. Doch mich hat der ganze Glanz vollkommen überrollt. Die Fragen nach: „Was willst du essen? Was für einen Weihnachtsbaum wünschst du dir? Mit welchem Geschenk können wir dir eine Freude machen?“, haben mich komplett überfordert. Ich wusste für keine dieser Fragen eine Antwort. Am liebsten wäre ich einfach im Bett geblieben.
Doch ich sah auch die Traurigkeit und Verzweiflung in den Augen meiner Mutter. Ihr stilles Flehen, das ich mich jetzt nicht aufgeben soll, das es ein Leben gibt, für das es sich lohnt zu kämpfen und weiter zu gehen. Und so ließ ich mich drauf ein: Ein Weihnachtsfest inklusive dazugehörigem Bäumchen. Doch Wünsche äußern, das konnte ich nicht. Da war nichts, was ich mir wünschte, nichts zu essen und nichts an Geschenken. Da war nur Leere in mir und tiefe Traurigkeit.
Da saßen wir dann unter dem Tannenbaum voll Lichterglanz: Meine Mutter, mein Stiefvater, die Familie meines Bruders (Mutter, Vater, Kind) und ich immer noch wie ein Alien von einem fremden Planeten. Ein Mensch, der Weihnachten verlernt hatte. Wie ging das noch mal? Was wurde jetzt von mir erwartet? Und was tun mit den Päckchen, auf denen mein Name stand – der mir inzwischen genauso fremd geworden war wie das ganze Leben hier draußen. Eine ganze Zeit lang starrte ich die Geschenke einfach nur an, wollte sie nicht öffnen, sie mir irgendwie bewahren. Sie waren so wie sie da lagen, wertvoll für mich, ganz egal was in ihnen war. So liebevoll verpackt und mit meinem echten Namen, an den ich mich erst wieder gewöhnen musste. So viele Jahre war er nicht mehr existent. Wie ich ging er im Milieu verloren. Und wie mich musste ich auch ihn wiederfinden, mich an den Klang gewöhnen, erinnern, dass ich das war, die Buchstaben etwas bedeuteten…
Dieses Weihnachten ist mein sechstes in Freiheit. Zwei habe ich in Kliniken verbracht und das fiel mir irgendwie leichter. Ich bin dankbar für die Familie, die ich habe, die zu mir hält. Aber ich bin auch tieftraurig über die Familie, die ich nie hatte.
Da ist mein Sternenkind, das dem Milieu zum Opfer fiel. Ich trage es ganz tief in meinem Herzen. Weihnachten frage ich mich jedes Jahr wieder: Was wäre aus dir geworden? Was aus mir? Aus uns? Du hattest keine Chance. Ich habe nicht nur mich, sondern auch dich geopfert, verloren. Ich kann mir das nicht verzeihen.
Das ist, was ich vor allem an Weihnachten tief in mir fühle. Im Milieu konnte ich das alles verdrängen – benebelt von Drogen und ausgezehrt vom Hungern. Dann kullern die Tränen. Ein nach vorne schauen und nicht zurück ist dann immer noch so sehr viel schwerer. Dann wird mir schmerzlich bewusst: Das Milieu nimmt alles – Körper, Seele, Entscheidungsfreiheit und gibt absolut nichts.
Und ich erinnere mich an all die Frauen, denen ich begegnet bin und mit denen ich Schicksal und Leiden teilte. Was wohl aus Ihnen geworden ist? Sind sie jetzt irgendwo in Freiheit oder müssen sie immer noch ertragen und still leiden, weil niemand sie sieht? Da ist so viel Schmerz und Traurigkeit in mir gerade zur Weihnachtszeit.
Doch ich versuche zu kämpfen, nach vorne zu schauen, Tag für Tag. Und ich versuche Jahr für Jahr mir etwas mehr Glanz und Weihnachtszauber zurückzuerobern.
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Titelbild:
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