Vielleicht braucht es wirklich neue rechte Pogrome mit vielen Toten, um Deutschland aufzuschrecken (CW: DE-Politik, Erinnerung an die frühen 90er)
Auch wenn das zynisch klingt:
Was Deutschland jetzt braucht, sind ein paar richtig heftige rechtsextreme Terrortaten. Keine Einzelmorde im Stil des NSU, sondern Anschläge mit jeweils gleich einer ganzen Anzahl an Toten. Gegen Geflüchtete, gegen schon integrierte Menschen mit Migrationshintergrund, gegen LGBTQIA+. Was die Rechten so hassen und loswerden wollen.
Dazu den üblichen nationalkonservativen „Ich bin nicht rechts, aber …“- und „Das wird man doch wohl noch sagen“-Mob, der darüber jubiliert oder gar selbst fleißig vor Ort mitmacht. Also voll ausgewachsene Pogrome unter Beteiligung von Mitläufern.
Außerdem AfD- und Unionspolitiker, die diese Taten ganz offen gutheißen, den Tätern applaudieren und die Opfer und derentgleichen aufs Übelste verunglimpfen. Auch hier wieder Leute, die ihnen zujubeln, wie damals Thilo Sarrazin zugejubelt wurde. Und Parteiführungsriegen, die die Aussagen dieser Parteimitglieder ignorieren oder relativieren.
Was Deutschland nach links zog
Seien wir mal ehrlich und blicken wir mal in der Geschichte zurück. Wann und warum ist Deutschland denn nach links gerückt? 1990 wegen der Wiedervereinigung? Mit Nichten und Tanten.
Hoyerswerda ’91.
Lichtenhagen ’92.
Mölln ’92.
Solingen ’93. Ganz besonders die ersteren zwei, die ja wirklich Pogrome waren, an denen auch die „Schaulustigen“ fleißig beteiligt waren. Darum ist Deutschland nach links gerückt.
Als Fremdenfeindlichkeit noch die Norm war
Ich meine, man sehe sich mal die frühere Bundesrepublik an. Ein paar sehr große Städte waren spätestens ab irgendwann in den ’60er oder ’70er Jahren Keimzellen linker oder gar linksalternativer Kultur, etwa Westberlin, Hamburg oder Düsseldorf. Überall sonst war man im Grunde vom gehobenen Bürgertum bis runter in die Arbeiterklasse eher konservativ, nationalistisch und xenophob – mit einem Wort: rechts.
Natürlich nahm man das nicht als „rechts“ wahr. So war man eben als Deutscher. Das nahm man eher als „normal“ wahr. So waren ja alle, die man kannte. Auch Opa war „nicht rechts“, obwohl er Wehrmachtsoffizier und NSDAP-Mitglied war. Er war ja nur Befehlsempfänger. Und solange er sein Exemplar von
Mein Kampf in seinem eigenen Bücherregal parkte, konnte man sich selbst schön in die Taschen lügen – nein, Opa war nie ein Nazi.
Es gab auch Linke, keine Frage, ganz besonders die ’68er Bewegung. Die galten aber bestenfalls als „Spinner“ und „Kommunisten“. Und solange es ein „drüben“ gab – also die DDR –, wurde denen gesagt: „Dann geh’ doch nach drüben!“ Man wollte keine Weltverbesserer, die irgendwas zum Guten verändern wollten. Man wollte gar keine Veränderungen. Das heißt, doch: Man wollte weniger „Kanaker“ und „Spaghettifresser“. Oder am besten gar keine mehr.
Schlimmstenfalls wurde alles, was links von Helmut Schmidt war, angesehen als „langhaarige Bombenleger“, also entweder RAF-Sympathisanten oder gleich potentielle RAF-Mitglieder. Viele linksalternative Männer hatten ja ihre langen Haare und Vollbärte aus der Hippiezeit als Zeichen der Rebellion gegen das konservativ-verstaubte System beibehalten. In den 80ern war der linke Stereotyp dann der nicht minder als bedrohlich und noch mehr als gewalttätig angesehene Punk.
Wie ich schon schrieb: Der Deutsche an sich neigt dazu, konservativ, nationalistisch und xenophob zu sein – bis auf diejenigen, die genau dagegen rebellieren. Am liebsten ist dem Deutschen an sich ein Umfeld, in dem es nur seinesgleichen gibt. Fremdkörper sind ebendies – und störend. Das war doch eigentlich der Hauptgrund für den jahrhundertelang grassierenden Antisemitismus: Die Juden waren anders. Und jegliche Form und Dosierung von „anders“ war zu anders.
Der Antisemitismus trocknete in Deutschland erst nach dem 2. Weltkrieg aus – und auch das nur, weil die allermeisten der wenigen Juden, die die Shoah überlebt hatten, in die Levante abgehauen waren, also weit weit weg waren.
Dafür gab es auf einmal die Gastarbeiter. Im Wiederaufbau und Wirtschaftswunder brauchte die Bundesrepublik mehr Arbeitskräfte, als sie hatte. Es herrschte im Grunde mehr als Vollbeschäftigung. Aber auf einmal wimmelte es überall vor Italienern, vor Jugoslawen, vor Griechen, vor Türken. Und die waren auch wieder „anders“.
Zugegeben, ja, in den 70er und 80er Jahren verschärfte sich die Fremdenfeindlichkeit in der Bundesrepublik. Zum einen war das Wirtschaftswunder vorbei, und es gab auf einmal nicht mehr Arbeit für jeden. Da sah man die Gastarbeiter als Konkurrenten um die Arbeitsplätze. Die wollten aber Deutschland nicht mehr verlassen – im Gegenteil: Zum anderen holten sie ihre Familien nach.
Allerdings – wie gesagt: Die Fremdenfeindlichkeit verschärfte sich. Sie kam da nicht erst auf. Es gab sie, solange es Gastarbeiter gab. Sie wandelte sich nur von „die sind anders als wir“ nach „die sind anders als wir und klauen unsere Arbeitsplätze“. Und sie war überall. Sie war die totale Normalität in praktisch allen Bevölkerungsschichten.
Fast die einzigen in Arbeiterklasse und Bürgertum, die nicht xenophob waren, waren Schulkinder, die sich mit Gastarbeiterkindern angefreundet hatten. Bei denen zu Hause waren sie willkommen – die bei ihnen aber nicht, weil: „Die sind schmutzig, und die klauen immer.“ Das Vorurteil vom diebischen Italiener verschwand erst in den 90ern – als es durch den diebischen Polen ersetzt wurde.
Die Wende brachte eben nicht die Wende
Selbst die Zeit um den Mauerfall änderte wenig. Im Gegenteil: Zusätzlich zu Gastarbeiterfamilien und den damals schon vorhandenen Geflüchteten aus so einigen Teilen der Welt kamen jetzt die „DDRler“, die „Zonis“, die die Chancen, die sie hatten, ergriffen und in die Bundesrepublik geflüchtet waren.
Daran können sich leider nur noch wenige erinnern. Ja, viele Bundesbürger haben sich für das „Brudervolk“ jenseits des bröckelnden Eisernen Vorhangs gefreut und über die Freiheit, die diese Leute endlich genießen durften. Aber es gab auch die, für die die DDR-Flüchtlinge auch wieder unerwünschte Fremdlinge waren mit ihren komischen Dialekten, unansehnlichen Klamotten und stinkenden Zweitaktern, die jetzt auch noch auf Kosten des deutschen Steuerzahlers lebten. Für die „Deutschland“ und die DDR zwei total verschiedene Dinge waren und immer bleiben würden. Und wie alle anderen Immigranten würden auch die „Ossis“ nie „richtige Deutsche“ werden.
Ein gewaltiger Unterschied zwischen West und Ost zeigte sich unmittelbar nach der Wiedervereinigung. In der DDR war man nämlich locker so latent fremdenfeindlich wie in der Bundesrepublik. Im Westen war allerdings der Nationalsozialismus gründlich aufgearbeitet worden, auch im Geschichtsunterricht in den Schulen. Die Bundesbürger hatten ein Gespür dafür, wie weit sie gehen durften. Niemand wollte als „rechts“ angesehen werden – aber Nationalismus und Xenophobie galten als Eigenschaften der politischen Mitte.
In der DDR war der Nationalsozialismus nie aufgearbeitet worden. Das hätte auch eine Aufarbeitung von Diktatur und Unterdrückung erfordert; statt dessen lebten die Menschen in diesem Teil Deutschlands knappe 57 Jahre ausschließlich unter diktatorischen Regimes. Rechtsradikale Tendenzen wurden ganz einfach von Volkspolizei und Staatssicherheit unterdrückt, also quasi für den äußeren Eindruck weggeschminkt, denn nach offizieller Diktion gab es das nicht in der ach so antifaschistischen DDR.
Nach der Wiedervereinigung fielen all diese Zwangsmaßnahmen weg. Und es zeigte sich: Im Osten waren einige absolut tiefbraun. Da hatte man ja nie gesagt bekommen, was daran falsch ist. Und ohne die DDR-Diktatur und das Wegkaschieren von allem, was rechts von Josef Stalin war, konnte sich diese Xenophobie ungehindert entfalten.
Zeitgleich tobte damals wie heute in Deutschland eine Asyldebatte. Die schwarz-gelbe Regierung zog viele Bundesbürger gnadenlos nach rechts und versuchte mit allen Mitteln, auch die ein knappes Jahrzehnt zuvor in die Opposition geputschte SPD zu einem massiven Rechtsruck zu zwingen. Ein ähnliches Bild haben wir heute – nur gab es damals nicht auch Druck auf die Grünen, denn in neoliberal-konservativen Kreisen nahm man sie noch nicht als ernstzunehmende politische Kraft wahr.
Hoyerswerda
Kein Jahr nach der Wiedervereinigung passierten die Pogrome von Hoyerswerda. Zum einen wurden diese Angriffe vorangetrieben von absolut unverhohlenen Neonazis, die sich in jeglicher Hinsicht auf das Dritte Reich beriefen und mit verfassungsfeindlicher Symbolik nur so um sich warfen. Zum anderen allerdings schlossen sich ihnen viele Sympathisanten an, die fleißig mitmachten. Was da los war, kam ausgiebig von den Massenmedien abends in die Wohnzimmer der Deutschen.
Und Hoyerswerda blieb keine Eintagsfliege. Im Gegenteil: Es lockte in West und Ost Neonazis und andere Rechtsradikale aus der Deckung. So manch ein Xenophobiker ließ sich gar dazu inspirieren, zum Neonazi zu werden, weil er dann die Möglichkeit hatte, etwas gegen Andersartige zu unternehmen, und etwas hatte, wodurch er seine Wut über die gefühlte Überfremdung – will sagen, überhaupt nur die bloße Anwesenheit Andersartiger – zu kanalisieren. Und wie Hoyerswerda auch bewies, waren solche Aktionen risikolos, weil die Polizei vor Ort gegen die rechten Mobs keine Chance hatte und aus Selbstschutz die Flucht ergriff.
So gab es noch 1991 einen Angriff auf eine Flüchtlingsunterkunft nach dem anderen. Diese Angriffe fielen mitnichten „unter ferner liefen“, denn seit Hoyerswerda waren diese Übergriffe ein Thema für die Mainstream-Medien. Vor allem die öffentlich-rechtlichen Medien waren tendentiell ähnlich rechtskonservativ eingestellt wie das gemeine Bürgertum und wollten mit den Berichten Asylbewerber in Deutschland als ein Problem darstellen. Allerdings erreichten sie mehr und mehr das Gegenteil.
Natürlich gab es auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs Deutsche, die „das ganze Ausländer-Gesocks“ aus dem Land entfernt sehen wollten. Die saßen vor ihren Fernsehern, sahen die Bilder und Berichte, und wenn sie schon nicht selbst zu Mitläufern oder Tätern wurden, feierten sie die Taten – und zwar auch dann noch, als es 1991 das erste Todesopfer gab.
Es gab aber auch die, die neutral oder zumindest nicht ganz so hart xenophob waren. Die, die den Geschichtsunterricht aufmerksam verfolgt hatten und darüber im Bilde waren, wie schlimm der Nationalsozialismus war. Bis 1991 hat sie das ganze Thema gar nicht so sehr gejuckt. Wenn sich jemand rassistisch oder fremdenfeindlich äußerte, dann war das eben so, da haben sie auch nichts gesagt. Auch wenn es darum ging, alle „Ausländer“ in Deutschland zu bekämpfen und außer Landes zu jagen, hatten sie keine klare Meinung.
Hoyerswerda zeigte aber, wie es tatsächlich aussieht, wenn aktiv und gewaltsam gegen in Deutschland lebende Nichtdeutsche vorgegangen wird. Das, worüber locker zwei bis vier Jahrzehnte lang nur theoretisch fabuliert wurde, sah man nun in der Tagesschau in Farbe. Die Theorie hatte man sattsam gehört – und so sah die dazugehörige Praxis aus. Das ließ sich schlicht und ergreifend nicht mehr ignorieren oder hinnehmen. Schon wenige Tage nach den Pogromen gab es in Hoyerswerda eine erste antifaschistische Demo mit weitaus mehr Teilnehmern als bei den Pogromen selbst.
Lichtenhagen, Mölln und Solingen
Wenn 1991 aufschreckte, dann tat 1992 das noch mehr. Lichtenhagen war noch die Steigerung von Hoyerswerda. Im November 1992 gab es in Mölln erstmals mehrere Tote. Ein halbes Jahr später gab es in Solingen noch mehr Tote.
Der rapide Linksruck kam vor allem durch diejenigen zustande, die sich bis zu diesen Ereignissen überhaupt nicht für Politik interessierten. Gerade unter den jungen Leuten gab es viele, die an Politik kein Interesse hatten. Schon in der dritten Legislaturperiode in Folge wurde die Bundesrepublik schwarz-gelb regiert und fast ausschließlich von „alten weißen Männern“. Diese machten wie gewohnt Politik für Konzerne, für bürgerlich-konservative Wohneigentümer und für den eigenen Machterhalt.
Eine allmähliche Politisierung junger Menschen hatte schon in den 80ern Fahrt aufgenommen. Wie heute sorgten sie sich um die Zukunft der Welt und somit ihre eigene – denn im Vergleich zu typischen Bundespolitikern und CDU-Wählern hatten sie theoretisch noch einige Jahrzehnte mehr vor sich. Neue Bewegungen, die vielfach zurückgingen auf Alt-68er, und sogar eine ganz neue Partei, die Grüne Alternative Liste, machten es lohnenswert, sich zu engagieren gegen die neoliberal-konservative Selbstzweckpolitik der 80er und ihre Begleiterscheinungen.
Und tatsächlich hatte die CDU in der Spätphase der zweiten Legislaturperiode Kohl ein ganz neues Bundesamt für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit eingeführt. Das war nicht nur eine Reaktion auf Tschernobyl, sondern vor allem auch eine auf die steigende Popularität der Grünen, die seit 1983 erstmals im Bundestag saßen, seit jeher eine harte Anti-Atomkraft-Linie fuhren und vor allem die ansprachen, denen keine der großen Blockparteien etwas zu bieten hatte. Die CDU wollte schlicht und ergreifend ein weiteres Erstarken der Grünen verhindern und bei der Bundestagswahl 1987 möglichst viele Stimmen einheimsen, die sonst an die Grünen gegangen wären.
Was tat die Bundesregierung?
Überhaupt, die Reaktionen der insgesamt 16 Jahre lang schwarz-gelben Bundesregierung auf diese Vorfälle. Beileidsbekundungen? Fehlanzeige! Damit hätte die Union nur ihre rechtskonservativen, xenophoben Stammwähler vergrault. Immerhin waren seit der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl auch die rechtsradikalen Republikaner mit Direktmandaten im Bundestag vertreten. Und wenn es eins gibt, was die Union nicht toleriert, dann sind das Parteien rechts der CSU, die der Union Wählerstimmen klauen.
Statt dessen stellte man die Anwesenheit wie auch immer gearteter Menschen mit Migrationshintergrund allgemein als Problem dar – auch wieder als Beschwichtigung der Stammwähler, für die jeder „Kanaker“, jeder „Bimbo“, jeder „Fidschi“ in ihrer Umgebung einer zuviel war. Wenn es für Asylbewerber oder schon seit vielen Jahren hier lebende Türken in Deutschland zu gefährlich wird, dann sollen sie eben wieder dahin abhauen, wo sie herkommen.
Tatsächlich schaffte es man sogar, noch einen draufzusetzen: Weil besonders in Lichtenhagen auch Linke, die an einer kurzfristig angesetzten Protestdemo gegen die rechte Gewalt teilnehmen wollten, in die Fänge der Polizei geraten waren, hieß es seitens hochrangiger CDU-Politiker, Lichtenhagen wäre auf das Konto derselben Linksradikalen und Linksautonomen gegangen wie Brokdorf, Hafenstraße, Startbahn West und Wackersdorf. Zunächst einmal ausschließlich, also ohne jedwede rechte Beteiligung. Vermutlich unter Druck gesetzt mit hieb- und stichfesten Beweisen der Teilnahme von Neonazis hieß es dann, ja, okay, die waren auch dabei. Aber auch linke Chaoten – wofür es natürlich keine Beweise gab.
Andere, und zwar inklusive dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl, begaben sich gar knallhart auf NATO-GLADIO-Stay-Behind-Linie und behaupteten steif und fest, die Stasi hätte Lichtenhagen organisiert und angezettelt. Die Stasi, das ehemalige Ministerium für Staatssicherheit der DDR, das zu dem Zeitpunkt schon seit mehr als zwei Jahren gar nicht mehr existierte. Kohl verweigerte auch die Teilnahme an der Trauerfeier in Mölln und jeglichen persönlichen Kommentar; statt dessen kamen aus der Bundesregierung zwei eigentlich allenfalls am Rande zuständige Minister.
Mediales
Wie gesagt, die deutschen Mainstream-Medien – das war ja alles noch vor unabhängigen Online-Medien, geschweige denn sozialen Medien – waren, abgesehen von wenigen Ausnahmen, samt und sonders gleichgeschaltet und auf CDU/CSU-Linie, machten also massiv bei der Anti-Asyl-Propaganda mit und übernahmen sogar die offensichtlichen Lügen aus den Reihen der Union. Internationale Medien zeigten sich dagegen erschreckt und zogen vor allem nach Lichtenhagen Parallelen zur Reichspogromnacht 1938 – was vor allem vom damals schon durch und durch rechtskonservativen Hetzblatt BILD bejammert wurde.
Im Grunde diskreditierten sich sowohl die Medien als auch die klassischen Blockparteien selbst. Vor allem die Union versuchte, auch mit Hilfe der Medien die SPD und allgemein die Bevölkerung weiter nach rechts zu ziehen. Statt dessen erreichte sie eher das Gegenteil: Der Antifaschismus verließ den linksautonomen Untergrund und die grüne 68er-Szene und breitete sich nicht nur, aber besonders unter jüngeren Leuten aus.
Musikalisch kamen antifaschistische Beiträge vor allem aus der groben Richtung Punk – und wie! Ausgerechnet die Onkelz machten mit und versuchten, sich gegen rechts zu positionieren – so gut sie das eben konnten als Band, die damals und teilweise bis heute als eigentlich immer noch rechts angesehen wird. Die Ärzte lieferten wiederum mit dem so wunderbar entwaffnenden „Schrei nach Liebe“ im Grunde einen lupenreinen Deutschpunk-Song. Trotzdem landeten sie damit nicht nur erst zum zweiten Mal überhaupt in den Hot Rotations vieler Popsender zwischen Boygroups, Happy Hardcore und R&B-Schnulzen, sondern ihren bis dahin größten Hit überhaupt.
Und heute?
Heute ist die Situation nicht so sehr anders wie Anfang der 90er. Die Union, das sind weiterhin weit überwiegend „alte weiße Männer“ und praktisch durchgängig machtgeile Karrieristen – allen voran Friedrich Merz. Der träumt insgeheim von einer absoluten Mehrheit, wie sie in der Geschichte der Bundesrepublik nur die Adenauer-CDU hatte und auch die nur ein einziges Mal. Gangbarste Alternative wäre Schwarz-Gelb wie in den 16 Jahren Kohl mit Lindner als der arrogant-libertäre Musk zu Fritzens allmächtigem Gottkaiser Trump.
Dabei ist die Union allerdings getrieben von der AfD, die mit nationalistisch-fremdenfeindlicher Propaganda die Bevölkerung so aufscheucht, wie es dereinst die Union selbst getan hat. Die kann, um ihre eigenen Wählerstimmen zusammenzuhalten, nur der AfD hinterherrennen und selbst immer rechter werden. Mit ihrem eigenen xenophoben Wahlkampf scheucht sie allerdings große Teile der Bevölkerung noch weiter auf und treibt sie noch weiter nach rechts, mitunter direkt in die Arme der AfD, deren Wählerstimmen Merz eigentlich samt und sonders für sich haben will.
Wie schon Ende der 80er, Anfang der 90er ist auch die SPD in den Sog geraten. Nachdem AfD und Union es zu „Volkes Willen“ gemacht hat, jegliche Asylpolitik – illegalerweise – zu stoppen, kann die SPD nur nachziehen, um zum einen überhaupt noch Teil der nächsten Bundesregierung zu sein und zum anderen als Koalitionspartner für die Union zur Verfügung zu stehen. Tut sie das nämlich nicht, käme nur entweder eine Minderheitsregierung in Frage – oder Schwarz-Blau, womit sich 1933 wiederholen würde.
Vor allem die öffentlich-rechtlichen Mainstream-Medien, von denen man eigentlich eine gewisse Sensibilisierung erwarten sollte, machen fleißig mit. Der AfD bieten sie bereitwillig jede Menge Publicity. Jeder Blaubraune darf seine kruden Thesen herausblasen – und zwar unkritisiert und unkommentiert. Allem, was irgendwo links des Seeheimer Kreises ist, begegnet man allerdings mit Skepsis und „Die haben’s doch verkackt“ und allem, was vollumfänglich links von Robert Habeck steht, gleich gar nicht. Beim BSW konzentriert man sich auch nur auf die Migrations- und Asylpolitik.
In Folge dessen sind erschreckend viele Deutsche jetzt der felsenfesten Ansicht: „Die Ausländer, die sind an allem schuld! Die klauen unsere Arbeitsplätze, die klauen unsere Wohnungen, und die verüben immer Terroranschläge! Die müssen weg!“ Und ja, irgendwie so komisch anders sind sie auch immer noch. Aus irgendeinem Grunde ist das aktuell sogar das einzige politische Thema, das überhaupt eine Rolle spielt.
Gleichzeitig ist es aber heutzutage sehr viel leichter möglich, sich an den Massenmedien vorbei zu informieren und mit wildfremden Menschen über große Distanzen zu kommunizieren. Das Internet ist längst die fünfte Gewalt im Staat und eine, die nicht gleichzuschalten geht.
Auch die Musikszene ist heute eine ganz andere als vor gut drei Jahrzehnten. Die Abhängigkeit von großen Plattenlabels und vom UKW-Rundfunk ist nicht mehr gegeben, und die Indie- und Alternative-Szenen sind sehr viel größer, umtriebiger und auch vielfältiger als früher. Musik kann sehr viel schneller veröffentlicht werden, weil es keiner großen Studios und keiner Tonträgerherstellung mehr bedarf; so kann sehr viel schneller auf aktuelle Ereignisse reagiert werden. Noch dazu ist die Musikszene schon längst gegenüber Rechts sensibilisiert und selbst weit überwiegend links.
Man stelle sich vor …
So, jetzt stelle man sich einfach mal vor, in irgendeiner mittelgroßen Stadt greift morgen ein bewaffneter faschistischer Mob, der teilweise mit gecharterten Bussen herangekarrt wurde, eine Erstaufnahmeeinrichtung an, und zwar mit dem expliziten Ziel, möglichst viele Bewohner zu töten. Alle schön mit optischen Anzeichen für ihre Gesinnung, ein paar vielleicht sogar mit verfassungsfeindlichen Symbolen. Sie rufen verfassungsfeindliche Parolen und werfen nicht nur Molotow-Cocktails, sondern sogar Sprengsätze, die sie nach Anleitungen aus dem Internet selbstgebastelt haben. Anwohner sympathisieren sich mit den Neonazis und mischen fleißig mit. Fluchtversuche sind zwecklos, weil das Gelände lückenlos umstellt ist.
Feuerwehr und Rettungswagen werden vom Mob an der Durchfahrt gehindert und sogar selbst angegriffen. Die Bereitschaftspolizei entsendet nur eine lumpige Hundertschaft, die obendrein auf Distanz bleibt und nicht eingreift – oder tatsächlich statt dessen gegen eine spontane linke Protestdemo einschreitet. Ein öffentlich-rechtliches Fernsehteam wird kurzfristig entsandt und bei laufender Kamera vom Mob attackiert. Schnell und heimlich gemachte private Smartphone-Bilder und -Filme zeigen unter den Angreifern Leute mit AfD-Abzeichen und sogar bekannte Parteiangehörige.
Zeitgleich oder kurz darauf gibt es eine ähnliche Tat wie in Mölln oder Solingen: Ein Mehrfamilienhaus mit Bewohnern mit offenkundigem Migrationshintergrund – die übrigens alle die deutsche Staatsangehörigkeit haben und Nachfahren von Einwanderern sind – wird von Neonazis mit Brand- und Sprengsätzen angegriffen, und zwar geschickt auf eine Art, die wiederum jegliche Flucht verhindert.
Wiederum kurz darauf geschieht etwas, was Anfang der 90er nur schwer möglich war und auch dann risikobehaftet: ein Angriff eines Neonazi-Mob auf einen LGBTQIA+-Treffpunkt, auch wieder mit möglichst vielen Toten als Ziel. Dieses Mal haben die Angreifer sogar illegale Sturmgewehre bei sich.
Was würde dann passieren?
Auf politischer Seite dürfte die Parteispitze erst der AfD, dann der Union behaupten, die Ursache läge in der Anwesenheit derjenigen, die zu Opfern geworden sind. Das Problem ginge einfach zu beheben, indem all diese Personen schnellstmöglich aus Deutschland ausgewiesen würden. In der Union dürfte man sich dabei nur auf die Geflüchteten beziehen und die längst integrierten Menschen mit Migrationshintergrund komplett ausklammern und ignorieren. Die AfD dürfte beides meinen und die totale und sofortige „Remigration“ aller „Ausländer“ fordern. Ihre zweite Riege sowie die Hinterbänkler könnten sogar fordern, dafür die Bundeswehr zu schicken, die bei Gegenwehr oder sonstiger Nichtkooperation von der Waffe Gebrauch machen soll.
Aus den Reihen von Union und AfD wird behauptet werden, die Angriffe seien allesamt ausschließlich von der Antifa ausgegangen – obwohl das gar keinen Sinn ergibt. Aber die Polizei hat ja Leute mit Antifa-Aufnähern in der Nähe aufgegriffen.
Konfrontiert mit Bild- und Filmbeweisen von der Anwesenheit tatsächlicher Neonazis, AfD-Sympathisanten und sogar aktiven AfD-Mitgliedern wird die Union höchstwahrscheinlich ein schnellstmögliches bundesweites Verbot der AfD und aller anderen rechtsradikalen und rechtsextremen Parteien fordern – mit dem Kalkül, zukünftig alle Wählerstimmen der AfD abgreifen und die absolute Mehrheit erlangen zu können. Die AfD wird derweil zunächst versuchen zu behaupten, die Bilder und Videos seien per KI gefaket worden. Gleichzeitig wird sie versuchen, sie überall löschen zu lassen. YouTube, Facebook und Instagram kommen dem schnell nach, während Betreiber verschiedener Fediverse-Instanzen, auf die die Bilder und Videos übertragen wurden, erst Aufforderungen zum Löschen und dann Morddrohungen bekommen.
Die Grünen werden mit ein paar Tagen Verzögerung jeglichen Versuch abbrechen, der SPD nach rechts hinterherzuhetzen – weil das nur Wahlkampftaktik war. Auch die SPD dürfte Morgenluft wittern und sich wieder zurück nach knapp links der Mitte bewegen – wobei nicht sicher ist, was nun die Wahlkampftaktik war. Unter den ersten Parteien, die sich überhaupt äußern, sind Die Linke und Volt. Die FDP hält sich weiter am Rockzipfel der Union fest und übernimmt deren Rhetorik, bis man dort merkt, was das für eine idiotische, politisch nachgerade selbstmörderische Idee ist.
Auf medialer Seite wird die BILD krampfhaft versuchen, interessantere Themen vor allem für die Titelseite zu finden, um über diese Vorfälle nicht berichten zu müssen. Allenfalls der Angriff auf den LGBTQIA+-Treffpunkt wird „neutral“ behandelt – will sagen, hinter vorgehaltener Hand gerechtfertigt. Alternativ wird auch sie durch Handverlesen von Bildern versuchen, das Narrativ der Union und der AfD zu übernehmen, die Antifa war’s.
Im allgemeinen werden die deutschen Medien allerdings mit Entsetzen reagieren. Kommentatoren werden sagen, ausgerechnet jetzt weiterhin von einer Remigration notfalls mit Waffengewalt zu reden oder gar von der Wiedereinführung von §175 StGB, zeugt von einer kaltschnäuzigen, menschenverachtenden Ideologie, die schlimmer ist, als der Nationalsozialismus jemals war. Sie gehen auch ein auf das Bild, das Deutschland im Ausland zeigt.
Dort wird es vor allem Elon Musk sein, der auf X die Neonazis in höchsten Tönen lobt. Die internationale Presse wird derweil zu großen Teilen wieder Parallelen ziehen zu sowohl 1933 als auch 1938. Selbst in Ländern, die nicht gerade linksliberale Musterregierungen haben, bekommt die Presse ernsthaft Angst vor einer Wiederkehr von 1939.
Die Wählerstimmen, die insbesondere die AfD verlieren wird, werden Stimmen junger, leicht zu beeinflussender Wähler sein – nicht zuletzt auch durch die sozialen Medien, wo schlagartig mehr und mehr Influencer politisch werden und vor der AfD warnen. Möglicherweise wird die sogar beim Versuch zu retten, was zu retten ist, sich verhaspeln und sich selbst noch mehr Schaden zuzufügen als sowieso schon.
Allgemein wird Deutschland binnen weniger Tage sehr viel sensibler werden. Es wird sehr schwierig werden, Kreuze bei AfD, Union oder FDP zu rechtfertigen. Und „ich bin nicht rechts, aber“ wird seine Glaubwürdigkeit ebenso verlieren wie „das wird man doch wohl noch sagen dürfen“ seinen letzten Rest von Gültigkeit. Denn wer rechts denkt und rechts wählt, wird noch schneller und leichter die Maske des angeblich politisch Uninteressierten fallen lassen und sich selbst als rechts und menschenverachtend darstellen.
Um zynisch zu bleiben: Vielleicht bräuchte es in der Woche vor der Bundestagswahl gerade in tendentiell weniger progressiven Teilen Deutschlands mehrere Jahrhundert-Unwetter mit mehreren hundert Toten, die den Klimawandel noch einmal unter Beweis stellen. Ganz besonders wieder im ländlichen Bayern.
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